Zwiesprache
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800 Jahre bist du alt,
noch älter dein Ursprung und deine Herkunft,
gewachsen und gewandelt durch die Jahrhunderte.

Ein ganz altes Symbol und doch ein ganz neues Labyrinth,
das dritte in einer französischen Kathedrale,
das größte und das vollkommenste,
begehbar und zugänglich, ein Gehweg, ein Wegbild.
Wie hast du es so lange ausgehalten?
Die vielen Menschen, die achtlos, ahnungslos über
dich laufen?

Dein Platz ist in der gotischen Kathedrale,
der fünften über dem alten megalithisch-keltischem
Heiligtum,
geweiht der Jungfrau und Gottesmutter Maria,
Grande-Mère, Virgo paritura, Virgo qui paeperit,
Himmelskönigin, Magna Mater,

gebaut von Baumeistern und Handwerkern
im Geist der Schule von Chartres nach der Heiligen
Geometrie
in der Spiritualität Bernhards von Clairvaux
als Leib Christi und seiner Ekklesia
in unvergleichlicher Perfektheit, Einfachheit und
Beredsamkeit.

Je älter du wirst, desto schöner wirst
du,
leuchtend wie Gold deine alten, buckligen Steine
im Licht der Kathedrale.
Du warst der Initiationsweg für die Katechumenen,
Heilsweg für die Gläubigen,
Mysterienweg für die Eingeweihten,

Tanzplatz des Bischofs am Ostermorgen,
Spielplatz der Kinder,
Schlafplatz der Jakobspilger,
Ruheplatz für die Tiere.
Was bist du für uns Menschen von heute?
Kunstwerk, Kult, Kalender, Magie, Ornament, Orakel,
Talisman,

Bild für Mikro- und Makrokosmos, Energiezentrum,
Esoterik, New Age, spirituelles Werkzeug,
zu alt, überholt, unterbewertet, überbewertet,
bedeutungslos?
Kannst du uns etwas sagen?
Ich lehre dich die Weisheit des Weges,
des langen Weges, des langsamen Weges, des umständlichen
Weges,

des Weges der Wendungen, Wandlungen, Windungen,
Drehungen,
des Weges der Läuterung, der Erleuchtung, der
Liebe,
den Bewegungsweg, den Erkenntnisweg, den Lebensweg,
den Todesweg
gehe den Weg.
Laß dich fangen vom Kreis,
gehe nach innen, konzentriere dich,
gehe nach außen, werde exzentrisch.

Ich lehre dich die Weisheit des Bauches,
ich trage dich auf meinen vielen Steinen wie eine
Mutter,
du kannst wachsen und neu geboren werden.
Ich richte mich aus nach dem Mond,
ich schaue zu den Türmen mit der Sonne und
dem Mond auf ihrer Spitze,
ich schaue auf das Westportal mit dem segnenden
Christus,
und die Rose über den drei Fenstern,
du kannst dich orientieren.

Über meine Mitte hinweg gelangst du zum Herzen
der Kathedrale,
in die Vierung von Lang- und Querhaus,
mit den Nord- und Südportalen und ihren Rosen.
Ich bin ein mathematisches Modell,
in mir verborgen das Spiel der Zahlen, die Blume
des Lebens,
der Kreis, das Quadrat, das Dreieck,
die gerade Linie, die krumme Linie,
der Anfang, das Ende, die Mitte.

Ich bin ein Kreis, ich bin viele Kreise,
ein Sonnenkreuz, ein Andreaskreuz,
Melodie und Harmonie in Raum und Zeit,
verzahnt mit der Erde, strahlend wie die Sonne.
In meiner Mitte:
Theseus und Minotaurus,
die mystische Hochzeit,

die sechsblättrige Blume,
das Neue Jerusalem.
Du darfst still werden, staunen, lauschen, hören,
schauen.
Du kannst das Labyrinth nicht ver-stehen, nur er-gehen.
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